Kapitel II
Netzwerkerin und/oder Außen- seiterin?
Senza titolo, 1947−1953 (Detailansicht)
“Ich stand außerhalb,
war dagegen, nie angepasst.”
Carol Rama
Gegen
alle Normen
Zensur wegen Obszönität – eine Beschwerde des Vatikans soll die Polizei veranlasst haben um das Jahr 1945 in Turin Carol Ramas erste Ausstellung zu schließen, bevor sie überhaupt eröffnet werden kann.
Stein des Anstoßes war eine Serie von Aquarellen, die laut Carol Rama zwischen 1936 und 1946 als direkte Antwort auf frühe einschneidende Ereignisse in ihrem Leben entstanden sind. „Appassionata“ (dt. Die Leidenschaftliche) oder „I due Pini“ (dt. Die zwei Pinien) lauten die Titel der Werke. Letzterer nimmt Bezug auf den Namen einer psychiatrischen Anstalt in Turin, in der ihre Mutter Marta Rama 1933 einige Zeit behandelt wurde. Die Aquarelle zeigen überwiegend nackte weibliche Figuren in oftmals eindeutig sexuell konnotierten Posen. Anderen fehlen Gliedmaßen, sie sind zu Torsi reduziert. Die Motive bestechen durch schonungslose Direktheit und scheinen kein Tabu zu scheuen. Im Kern geht es in diesen Aquarellen um Fragen zu Freiheit und Unterdrückung, zu gesellschaftlichen Grenzen und deren Überschreitung: Ein thematischer Fokus, der nicht nur Rama beschäftigt, sondern zu dieser Zeit von zentraler Bedeutung für die Avantgarde-Strömungen insgesamt ist.
“Wahnsinn ist nichts, was uns fremd ist.
Sich zu sicher auf der richtigen Seite zu wähnen, auch das ist Wahn.”
Carol Rama
Eine nackte Frau hockt, den Betrachtenden den Rücken zugewandt, am Boden und verrichtet zentral in der unteren Bildhälfte platziert ihre Notdurft. Ihr mit einem Kranz geschmückter Kopf ist ins Profil gedreht und die Zunge keck herausgestreckt. Auf einer anderen Darstellung sitzt eine nackte weibliche Figur in einem Rollstuhl. Die vervielfachten Räder scheinen die Figur einzusperren. Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass ihre Beine amputiert und die roten Pumps ganz nutzlos auf den Fußrasten des Rollstuhls platziert sind. In einem weiteren Aquarell liegt eine bekränzte Frauenfigur auf einer Metallpritsche. An den Seiten der kargen Bettstatt sind Schnallen zum Fixieren erkennbar, daneben ein ganzer Stapel weiterer Pritschen, deren Gitterstrukturen erneut an einen Käfig denken lassen.
Figuren der Mythologie
So sehr Carol Ramas Aquarelle mit Konventionen brechen, so knüpfen sie doch zugleich an klassische Bildungsthemen an. Die weiblichen Figuren in den Aquarellen tragen vielfach Haarkränze. Sie verweisen damit auf Figuren aus der griechisch-römischen Mythologie: Mänaden, die Begleiterinnen des Dionysos, Gott des Weines, des Rauschs, des Wahnsinns und der Ekstase. Ihr Name leitet sich ab vom griechischen Wort „μανία manía“ (dt. Raserei, Wahn).
Durch die Verknüpfung mit der klassischen Antike hebt Rama ihre vermeintlich jenseits von Normen agierenden Figuren aus dem Kontext des für „krank“ Befundenen und verleiht ihnen eine weitere Bedeutungsebene: Sie werden mythisch überhöht.
Die Aquarelle, die in ihrer Radikalität beeindrucken, sind immer wieder feministisch gelesen worden.
In einem Akt der Selbstermächtigung brechen sie mit jener künstlerischen Tradition, wonach Frauen die Rolle als betrachtete Objekte und Männer jene der betrachtenden Subjekte zukommt. Durch Überschreitung dieser künstlerischen Konventionen hinterfragen die Werke männlich dominierte Herrschafts- und Repräsentationssysteme. Ramas Offenlegung gängiger Unterdrückungsmechanismen leistet somit einen Beitrag, dem Körper der Frau seine Selbstbestimmung zurückzugeben.
“Die ausgestreckte Zunge
ist der Gegenstand des Wunsches.”
Carol Rama
Casa
Carol Rama
Das Wohnatelier in Turin.
Das Motiv der Zunge nimmt in Carol Ramas Werk eine besonders prominente Rolle ein. Viele Figuren in ihrem Frühwerk strecken sie provokativ heraus. In der Serie der „Bricolagen“ treten Zungen dann als losgelöste Körperteile neben Gesäßabdrücken und Puppenaugen auf. Ein weiteres Mal erscheint die Zunge in der Mixed-Media-Serie „La mucca pazza“ (dt. Die wahnsinnige Kuh), die von der Tierseuche BSE inspiriert wurde.
Auch hier bewegen sich Ramas Kunstwerke im Spannungsfeld zwischen lustvoller Erotik und enthemmtem Wahnsinn.
Die erotischen Konnotationen der Zunge sind in doppelter Weise lesbar. Einerseits hat das Organ klare Ähnlichkeiten mit dem Penis: Länglich und gut durchblutet kann es in den Körper eines anderen Menschen eindringen. Andererseits legt die unnatürlich spitze Form vieler von Rama gemalter Zungen die Assoziation mit der Vulva und vor allem der Klitoris nahe. Darüber hinaus lassen die Zungen sich auch in einer Geste weiblichen Empowerments als symbolische Aneignung des Phallus deuten. So symbolisieren die Zungen ein vehement bejahendes, bemerkenswert freizügiges Verhältnis zum weiblichen Körper und zu einem selbstbestimmten Ausdruck von Lust: Heute könnte man von „Sex Positivity“ sprechen.
Kontakte
zu Italiens Intellektuellen
In Interviews betont Carol Rama immer wieder ihre künstlerische Eigenständigkeit. Sie ist aber keineswegs eine isolierte Außenseiterin, sondern schart einen ganzen Kreis intellektueller Gleichgesinnter um sich.
Carol Rama besucht in Turin regelmäßig Ausstellungen und Veranstaltungen, empfängt und trifft immer wieder prominente Persönlichkeiten des kulturellen Lebens der Stadt. Über künstlerische Entwicklungen, Politik und das gesellschaftliche Geschehen ist sie stets bestens informiert.
In einer Zeit, in der die italienische Intellektuellen-Szene von Männern dominiert wird, gelingt es Rama als einer der wenigen Frauen, ein beachtenswertes Netzwerk in die Bereiche der Literatur und Musik, des Designs sowie der Kunst aufzubauen.
Eine besonders enge Verbindung pflegt sie mit ihrem lebenslangen Freund Edoardo Sanguineti, einem der wichtigsten Neuerer der italienischen Literatur. Ebenfalls zu Ramas Freundeskreis gehören Felice Casorati, einer der bekanntesten Maler Turins, und seine Frau Daphne Maugham Casorati. Casorati ist einer der Ersten, der die Qualität von Ramas Werk erkennt und sie früh fördert. Zudem knüpft Rama enge Freundschaften mit Turiner Intellektuellen wie dem Musikwissenschaftler und Antifaschisten Massimo Mila, dem Maler und Philosophen Albino Galvano, dem Architekten und Designer Carlo Mollino sowie dem Autor und Künstler Corrado Levi. Schließlich gehören auch der Komponist Luciano Berio, die Schriftsteller Italo Calvino und Cesare Pavese zu ihrem Kreis – und nicht zu vergessen der Surrealist Man Ray.
Künstler, Schriftsteller, Architekt und Dozent an der Fakultät für Architektur des Politecnico di Milano: Corrado Levi (geb. 1936) gilt als Multitalent. In den 1970er- und 1980er-Jahren befördert er als Kurator einen stärkeren Austausch zwischen der US-amerikanischen und der italienischen Kunstszene und verhilft zahlreichen italienischen Künstler*innen, darunter Carol Rama, zu mehr internationaler Sichtbarkeit. Als Rama 1993 im italienischen Pavillon der 45. „Biennale di Venezia“ in einem eigenen Raum ausstellt, wird Levi für dessen Gestaltung hinzugezogen.
Man Ray (1890–1976) zählt zu den bedeutenden Künstler*innen der Moderne, insbesondere des Surrealismus. Seit den frühen 1970er-Jahren stehen Carol Rama und er in regelmäßigem Austausch. In dieser Zeit unternimmt die Künstlerin − häufig in Begleitung von Man Ray − mehrere Reisen, darunter nach Paris, New York und Saint-Tropez. Beide inspirieren sich gegenseitig, verschiedene Kunstwerke Ramas sind Man Ray gewidmet.
Über viele Jahrzehnte verbindet Carol Rama eine Freundschaft mit Carlo Mollino (1905–1973), einem Turiner Architekten, Autor und Designer. Insbesondere mit seinen Möbelentwürfen leistet dieser wichtige Beiträge zum sogenannten organischen Design, das sich an Formen der Natur orientiert und oftmals durch frei geschwungene Linien auszeichnet. Zahlreiche seiner Entwürfe weisen auch erotische Komponenten auf. Sein von ihm als Gesamtkunstwerk gestaltetes Apartment schräg gegenüber der „Casa Studio Carol Rama“ ist heute als Privatmuseum zugänglich.
In den 1970er-Jahren lernt Carol Rama den international renommierten Galeristen und Kunstsammler Alexander Iolas (1907–1987) kennen. Nach einer Karriere als Balletttänzer betreibt Iolas seit den 1930er-/1940er-Jahren Galerien in New York, Paris, Mailand sowie weiteren Städten und verfügt über ein umfassendes Netzwerk in der internationalen Kunstwelt. Sehr erfolgreich vertritt er unter anderem die Künstler*innen René Magritte, Yves Klein, Niki de Saint Phalle, Man Ray, Alexander Calder, Jean Tinguely und Andy Warhol – ab Mitte der 1970er-Jahre dann auch Carol Rama.
1980 werden Carol Ramas Werke in Mailand in der bahnbrechenden Gruppenausstellung „L’altra metà dell’avanguardia 1910–1940“ (dt. Die andere Hälfte der Avantgarde 1910−1940) präsentiert.
Diese Überblicksausstellung beleuchtet erstmals den Beitrag von Künstlerinnen zur Avantgarde und stellt Ramas künstlerische Bedeutung heraus. Weitere Stationen der Ausstellung in Rom und Stockholm eröffnen Ramas Werk endlich einem breiteren Publikum. 2003, im Alter von 85 Jahren, erhält Rama schließlich auf der 50. „Biennale di Venezia“ den „Goldenen Löwen“ für ihr Lebenswerk.