Kapitel III
Fortwährend auf der Suche
Senza titolo, 1967 (Detailansicht)
“Ich habe keine Regeln.
Ich fange an, wie ich will und mache weiter.”
Carol RamA
Originell, eindrucksvoll, gleichsam kraftvoll wie zart, wechselt Carol Ramas Œuvre zwischen plakativen sowie subtilen Momenten und zeichnet einen sehr persönlichen Weg nach. Die Bandbreite der Arbeiten Ramas lassen eine große künstlerische Freiheit aufscheinen.
Als Künstlerin bleibt sie eine Suchende: stets interessiert an neuen Ausdrucksmöglichkeiten und immer offen für Experimente. Dabei knüpft Rama auch an jeweils aktuelle Strömungen an. Dies bezeugen ihre künstlerischen Anfänge ebenso wie ihre Zeit im Turiner Zweig des „Movimento per l’Arte Concreta“ (MAC) in den 1950er-Jahren. Mit Carol Ramas Materialcollagen der 1960er-Jahre etabliert sich erstmals die Bezeichnung „Bricolage“ in der Kunstgeschichte. In den „Gomme“ (dt. Gummis) setzt die Künstlerin ihren einfallsreichen Umgang mit ungewöhnlichen Materialien in den 1970er-Jahren fort. Gerade wegen ihrer Unterschiede sind diese drei Schaffensphasen wohl besonders bezeichnend für das umfangreiche Gesamtwerk der Künstlerin.
Regeln und Rhytmus
– Mitglied des MAC
Zu Beginn der 1950er-Jahre verzichtet Carol Rama zunehmend auf alle Anklänge zur gegenständlichen Malerei und findet zu einer klaren, abstrakten Formensprache.
Durch die Abkehr vom Figürlichen treten Fragen der Komposition sowie der Ordnung von Flächen und Raum im Bild in den Vordergrund. Serien in reduzierter Farbpalette und Experimente mit Farbkontrasten entstehen. Zugleich unternimmt Rama erste Versuche, mit neuen Materialien zu arbeiten, beispielsweise mit Kunstpelz und Stoff. Insbesondere bei textilen Kunstwerken entstehen erstmals große Formate, unter anderem überdimensionale Stoffcollagen. In ihrer Hinwendung zur geometrischen Abstraktion findet Rama in Turin durchaus Gleichgesinnte: 1953 schließt sie sich offiziell dem Turiner Kollektiv „Movimento per l’Arte Concreta“ (MAC) an.
Was ist MAC?
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es international eine starke künstlerische Hinwendung zur Abstraktion. Als deutliche Abgrenzung zur Kunst des Faschismus nehmen auch in Italien Vertreter*innen der gegenstandslosen Malerei eine führende Rolle in der Kunst ein. Verschiedene Strömungen, etwa die bereits in der Vorkriegszeit entstandene sogenannte Konkrete Kunst, stehen für einen neuen Kunstbegriff, der Gestaltungsfragen zu Komposition und Farbe in den Mittelpunkt rückt. Sie zeichnen sich durch eine geometrisch-abstrakte Bildsprache aus, die klaren Regeln folgt. In diesem Geist wird 1948 in Mailand das „Movimento per l’Arte Concreta“ (MAC) gegründet. Im Unterschied zu anderen Gruppen der Konkreten Kunst verfolgen die Künstler*innen des MAC keine strenge Geometrie, stattdessen finden auch abgerundete, unregelmäßige Formen Verwendung.
Vor allem die Herausgabe der Zeitschrift „arte concreta“ in den Jahren von 1951 bis 1953 weckt in Italien landesweit Interesse an dieser Bewegung.
1952 formt sich durch die Gründungsmitglieder Annibale Biglione, Albino Galvano, Adriano Parisot und Filippo Scroppo der Turiner Zweig des MAC. 1953 treten Carol Rama sowie die befreundete Künstlerin Paola Levi-Montalcini der Gruppe bei. Das Bündnis währt jedoch nur kurz: Bereits 1958, nach nur sechsjährigem Bestehen, löst sich die Gruppe wieder auf.
Nach einer künstlerisch sehr produktiven Schaffenszeit als Mitglied des MAC beginnt Carol Rama sich Ende der 1950er-Jahre von der Gruppe zu lösen und verfolgt fortan nur mehr eigene Wege. Nichtsdestotrotz äußert sie sich rückblickend positiv über das MAC: „Ich bin sehr froh, dass ich diese Möglichkeit hatte, mich einzufügen.“
Bricolagen
– Offenheit und Improvisation
In großer künstlerischer Freiheit kombiniert Carol Rama in den 1960er-Jahren Papier oder Leinwand mit Objekten. Es entstehen Collagen mit hoher Innovationskraft: die „Bricolagen“.
Nach und nach beginnt Carol Rama in den 1960er-Jahren die Gestaltungsmöglichkeiten der Collage experimentell für sich zu erweitern. Verschiedenste Materialien wie Klebstoff, Emaille, Sprühfarbe oder Tusche werden dabei mit locker aufgetragener oder gespritzter Farbe kombiniert. Ihr Umgang mit Farbe erinnert an Tendenzen des sogenannten Informel, einer gegenstandslos-abstrakten Kunstströmung, die Formen und Kompositionen auflöst sowie Spontanität und Zufall betont. Gleichzeitig verlassen ihre Arbeiten den flächigen Bildgrund und gewinnen eine räumliche Dimension. Die Bandbreite der von Rama eingesetzten Materialien ist groß: Metallspäne, Puppenaugen, Draht, Spritzen, Felle, Tierkrallen und vieles mehr wird verwendet. Die größeren Werke entstehen auf Leinwand, Pappe oder ähnlich festen Untergründen; viele Experimente finden aber auch auf Papier statt.
“Ich hatte immer meine eigene kleine
Sprache, die mir gedient hat.”
Carol Rama
Das kleinformatige Werk „Presso il pungente promontorio orientale“ (1967, dt. Nahe der schroffen östlichen Landspitze) wird von zwei Farbklecksen in wässrig-verdünntem Schwarz und mattem Pink dominiert. Darunter ist die an den Rändern abgedunkelte und gealtert wirkende Leinwand sichtbar. Den Bildmittelpunkt markieren zwei unterschiedlich große, leuchtend blaue Puppenaugen mit Kunstwimpern. Auch in der Ecke links oben sitzen drei weitere Puppenaugen gleicher Machart. In schwarzer und weißer Tusche sind rätselhafte Wortfetzen und naturwissenschaftlich anmutende Formeln neben den Augen platziert.
Eindrucksvoll ist eine Reihe großformatiger Kunstwerke in feurigem Rot, darunter „Senza titolo (Maternità)“ (1966, dt. ohne Titel [Mutterschaft]). Dessen gesamte Leinwand bedecken ein kräftiges Rot und dazu kontrastierendes Schwarz. Die Farbflächen sind partiell dick aufgetragen, teilweise fließen sie aber auch in feinen Übergängen ineinander. Eine vertikale Form in feinen, zügig gesetzten weißen Linien weckt offensichtliche Assoziation zu einer Vulva. Um sie herum sind blau leuchtende Glasaugen montiert.
Auf einem gleichmäßigen Untergrund in gebrochenem Weiß ist eine Figur angedeutet, die auf Linien aus Flüssigklebstoff und schwarzer Sprühfarbe reduziert ist: vier Gliedmaßen, die in zwei bis drei kurzen Strichen enden, sowie ein ovaler Rumpf in Schwarz. Vor einem roten Farbklecks sind zwei dunkle Kunstaugen mit länglichen Pupillen übereinander gelagert. Das Werk wird der Reihe der sogenannten Napalm-Bilder zugeordnet, die als Reaktion auf den Vietnamkrieg entstehen. Als fragmentierte Wiedergabe des menschlichen Körpers gedeutet, nimmt es Bezug auf durch den Kampfstoff verbrannte Körper.
Eine künstlerische Praxis: Bricolage
1946 lernt Carol Rama den Dichter Edoardo Sanguineti kennen, der zu einem ihrer engsten Freunde wird. Über lange Jahre begleitet er ihr Schaffen und verfasst zahlreiche Texte dazu. Bis zu seinem Tod 2010 bleiben die beiden in regem Austausch.
Um ihre Materialcollagen der 1960er-Jahre zu beschreiben, verwendet Edoardo Sanguineti 1964 zum ersten Mal die Bezeichnung „Bricolage“. Dabei bezieht er sich auf das Buch „La Pensée sauvage“ (dt. Das wilde Denken) des französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss, das im gleichen Jahr ins Italienische übersetzt worden war. Abgeleitet von dem französischen Verb „bricoler“ (dt. herumbasteln), hatte Lévi-Strauss den Begriff der „bricolage“ entwickelt, um ein Vorgehen zu beschreiben, bei dem die Verwendung von in einem bestimmten Moment verfügbaren Mitteln und das Improvisieren charakteristisch sind. Diese Praxis erkennt Sanguineti im Schaffensprozess seiner Freundin wieder: „Jene Spielregel, die ‚besagt, sich immer dem anzupassen, was gerade zur Verfügung steht, das heißt einer stets »begrenzten« Menge von Werkzeugen und Materialien, die vom Üblichen abweichen‘, das ist zugleich die Grundregel jeder Bricolage und auch die Regel dieser neuen Kunst, die geduldig bei der direkten Verfügbarkeit des Realen stehen bleiben will, nicht davon abweicht und sich nur der unmittelbaren und offensichtlich alltäglichsten Realität verpflichtet.“
Mit ihren Werken richtet die Künstlerin häufig den Blick auf unbequeme Themen der Zeit und überschreitet immer wieder aufs Neue die Grenzen der Vorstellung dessen, was als „bildwürdig“ gilt.
In Erinnerung an die Alltagsobjekte, die motivisch bereits im Frühwerk auftauchen, montiert Carol Rama Gegenstände nun direkt auf das Bild. Es sind allesamt Objekte, die Unbehagen und Irritation auslösen sowie verstörende Assoziationen wecken, die eine Vielfalt starker Emotionen ansprechen. Als Kontrast setzt Rama ihnen in sauberer Schrift mathematische Formeln und physikalische Berechnungen entgegen. Zufällige Farbspritzer werden mit feinen Linien umfasst und geordnet. So faszinieren die „Bricolagen“ besonders, da sie unkontrollierten Impuls und detailreiche Präzision vereinen.
Luis Buñuel, Un chien andalou, 1929 / Dora Maar, Les Yeux: Element Pour Photomontage, 1935
Immer wieder montiert Carol Rama in ihre „Bricolagen“ Puppenaugen oder auch zur Präparation von Tieren benutzte Glasaugen. Die Rollen von Betrachter*innen und Werk werden umgekehrt: Es scheint, als würde das Kunstwerk zurückschauen – ein hocheffektives Mittel der Irritation.
Auch die Künstler*innen des Surrealismus arbeiten mit diesem Effekt. In zahlreichen Werken von Salvador Dalí, René Magritte oder Dora Maar wird das Auge als isoliertes Körperorgan vergrößert, vervielfacht oder verfremdet und zu einem zentralen, sich wiederholenden Motiv. Vor allem der Film wird zum Ort für Blickexperimente, die das Auge und das Sehen in den Fokus rücken. Weltberühmt ist die Eröffnungsszene aus Luis Buñuels und Salvador Dalís Stummfilm „Un chien andalou“ (1929, dt. Ein andalusischer Hund), in der ein frisch geschärftes Rasiermesser durch einen Augapfel schneidet. Die Szene wirkt gleichzeitig verblüffend real und absurd. Eine Nähe zum Surrealismus lässt sich bei Carol Ramas „Bricolagen“ nicht von der Hand weisen.
Gummi
– ein simples Material
Zu Beginn der 1970er-Jahre beginnt Carol Rama mit einem Material zu experimentieren, das ihr aus ihrer Kindheit bestens vertraut ist.
Reifen und Schläuchen ist Rama auf dem Fabrikgelände ihres Vaters begegnet. Amabile Ramas mittelständische Firma stellt bis Ende der 1920er Jahre Fahrzeug- und Fahrradteile her. Der Bankrott der Firma während der Weltwirtschaftskrise verändert die Lebensumstände der Familie jedoch grundlegend. 1942 stirbt Amabile Rama im Alter von 52 Jahren, möglicherweise durch Suizid. Noch Jahrzehnte später stellen diese frühen, traumatischen Erfahrungen Referenzpunkte in der künstlerischen Themenwelt Ramas dar.
“Reifen erinnern mich an meinen Vater, die Fabrik;
sie erinnern mich an Kraft. ”
Carol Rama
In der Collage gehen zwei gekurvte dunkle Flächen ineinander über. Die Oberfläche ist gewellt. Die poetische Wirkung dieses Kunstwerks wird durch ein Alltagsmaterial erzeugt: Gummi. Die Beschränkung auf wenige Materialien, vornehmlich auf Gummi, ist für die Künstlerin eine konsequente Fortführung von Gestaltungsprinzipien der „Bricolagen“. Die Arbeiten der Werkserie zeichnen sich durch vereinfachte Bildelemente aus, die in strenger Zurückhaltung auf dem Bildträger angeordnet sind. Mit Werken wie „Autorattristatrice“ − eine Wortschöpfung, die, frei übersetzt, eine sich selbst traurig stimmende Frau meint − wird sie politisch und kommentiert die Napalm-Bombardierungen der USA während des Vietnamkriegs.
Es sind gebrauchte und aussortierte Reifen, die Rama zerschneidet und aufmontiert oder wie Innereien an Haken in einer Wurstfabrik vor die Bildfläche hängt.
Die Serie der „Gomme“ (dt. Gummis) rücken Carol Rama in die Nähe der italienischen Kunstströmung „Arte Povera“, deren Künstler*innen in ihren Werken bewusst „arme“, also leicht zugängliche, gewöhnliche und kostengünstige Materialien sowie Objekte des Alltags einsetzen. Zugleich spiegelt die Serie die Auseinandersetzung der Künstlerin mit der internationalen Minimal Art. Diese Kunstrichtung erzielt ebenfalls formale Strenge durch einfache, oft geometrische Formen und setzt eine reduzierte Farbpalette ein. Rama verleiht dem Minimalismus jedoch eine ganz eigene Ausprägung, indem sie Assoziationen weckt zu Haut, Organen, biomorphen Gebilden. Diese setzt sie teils düster vor matten schwarzen Hintergründen in Szene.