Kapitel 4

Objekte des Alltags – Objekte der Lust

Senza titolo, 1968

“Ich habe schon immer Objekte und Situationen geliebt,

die abgelehnt wurden.”

Carol Rama

Rasierpinsel, Schaufeln, Gebisse, Schusterleisten – in Carol Ramas Werken entdeckt man immer wieder kuriose Objekte. Es sind banale Gegenstände, die im Alltag oder in ihrem Gebrauch kaum Beachtung finden.

Mit unterschiedlicher Funktion sind sie Bildmotive oder Arbeitsmaterial, Hauptakteure oder Beiwerk. Oft vermitteln die Dinge etwas Rätselhaftes, Irritierendes und werfen Fragen auf. Absichtsvoll nehmen die Gegenstände bei Rama Stellvertreterrollen ein: Sie stehen für etwas, das über den eigentlichen Objektcharakter hinausweist. Dies kann vielschichtig sein und mehrere Bedeutungen gleichzeitig haben. Häufig bestehen Bezüge zu Familienmitgliedern: die Gegenstände stammen aus dem Arbeitsumfeld oder der direkten Lebenswelt der Eltern, der Großmutter oder Verwandten und Freunden der Familie. Die verwendeten Dinge lösen außerdem – wenngleich weniger offensichtlich – Assoziationen aus, die eher unbewusst stattfinden und psychologischer Natur sind. Sie können triggern oder Fixierungen bewirken. Und schließlich lassen sich manche der Gegenstände als Objekte erotischer Fantasien und Fetische deuten.

Teatrino n. 3, 1938
Ex votos in einer italienischen Kirche

„Teatrino n. 3“ (1938, dt. Miniaturtheater Nr. 3) zeigt eine Ansammlung von Votivobjekten, auch „Ex votos“ genannt, wie sie im Katholizismus verwendet werden. „Ex votos“ sind in der Regel kleine kunsthandwerkliche Objekte – Gemälde, Reliefs aus Metall oder Wachsfigürchen. Sie zeigen ganze Körper oder einzelne Partien wie Beine, Augen oder Torsi. Die dargestellten Körperteile repräsentieren Krankheiten, ihre gläubigen Stifter*innen verbinden mit ihnen die Bitte um Heilung. Die gemalten Votivgaben Ramas – Unterschenkel und Füße − scheinen merkwürdig verformt, weisen Missbildungen auf und erinnern mitunter an Hufe. Hufe sind im Katholizismus wiederum mit dem Bösen assoziiert. Ist dies einmal mehr eine Provokation der Künstlerin?

Nonna Carolina, 1936
Schusterleisten aus Holz in einer Werkstatt

Das dicht gedrängte Nebeneinander unzähliger Schusterleisten umgibt die titelgebende Figur des Werks, „Nonna Carolina“, Ramas Großmutter. Die Frauenfigur selbst erscheint merkwürdig körperlos, ein Kissen und eine Bettdecke sind angedeutet. Am Hals von Nonna Carolina haben sich Blutegel festgesaugt, eine bis Anfang des 20. Jahrhunderts geläufige medizinische Behandlungsmethode. Die Schusterleisten, über die bei der Herstellung von Schuhen das Leder in Form geklopft wird, haben ebenfalls einen familiären Hintergrund, da sie auf den Beruf ihres Onkels Edoardo verweisen. Alle Bildelemente stellen einen Bezug zu Ramas Kindheit her und haben die junge Carol Rama offenbar nachhaltig fasziniert.

“…Objekte, die Genuss bereiten,

die Befremden und Erotik in den Alltag bringen.”

Carol Rama

Die Wiederholung eines Gegenstandes in Form einer fast lexikalischen Ansammlung ist ein bewusst und immer wieder gewähltes Gestaltungselement Ramas: „Opera n. 15 (Dentiere)“ (1939, dt. Werk Nr. 15 [Gebisse]) zeigt Gebisse und Zahnprothesen. Ihr Anblick konfrontiert mit einem für viele Menschen sensiblen und oft angstbehafteten Thema: der Verlust von Zähnen und der Gang zum Zahnarzt. Auch diese Alltagsobjekte sind Rama aus ihrem familiären Umfeld vertraut. Eine ihrer Tanten hatte früh alle Zähne verloren und bewahrte offen sichtbar eine ganze Reihe von Zahnprothesen zu Hause auf. In der künstlerischen Inszenierung aus jedwedem Kontext gelöst, regen sie die Fantasie der Betrachtenden für eigene Assoziationen an.

Opera n. 15 (Dentiere), 1939
Brevetto n. 7689 R (Le palette), 1940

Vier Schaufeln stehen in Reih und Glied, doch keine gleicht der anderen. Carol Rama spielt erneut mit Wiederholung und Variation eines Motivs. Doch auch hier sind die Schaufeln nicht „nur“ Schaufeln: Sie wecken gleich eine ganze Reihe von Assoziationen, lassen an Wirbelsäulen und Beckenknochen, aber auch an Vulven denken und rufen, obwohl sie Alltagsobjekte sind, Unbehagen hervor. Der Titel des Blattes (dt. Patent Nr. 7689 R [Schaufeln]) lässt sich wiederum als biografischen Verweis lesen: Carol Ramas Vater Amabile hatte mehrere Patente angemeldet.

“Ich liebe die Fetische, den Sex.

Den geträumten, fantasierten Sex…”

Carol Rama

Elegante Damenschuhe und Rasierpinsel – Gegenstände, die im Alltag üblicherweise nicht unmittelbar nebeneinander zu finden sind, werden zusammen inszeniert. Beide Objekte stehen repräsentativ für binäre Geschlechterrollen, die hier einander begegnen: das hochhackige Modeaccessoire, das seinen Träger*innen einen verführerischen Gang verleiht, und das schaumschlagende Werkzeug, oftmals Teil der männlichen Morgenroutine. Weniger offensichtlich ist die Gestaltung des Schuhinnenfutters, dessen zarte Rosatöne Assoziationen mit dem Penis erlauben. Sowohl die Absatzschuhe als auch die Pinsel, die mit den feinen Borsten ebenfalls die sinnliche Wahrnehmung stimulieren können, werden zu Objekten der Lust und des Fetischs.

Opera n. 47, 1940

Was bedeutet „Fetisch“?


Nach moderner Auffassung meint die Kernidee von „Fetisch“ die Aufladung eines Objektes mit Bedeutung. Aus kulturanthropologischer Sicht hat der Fetisch seine Wurzeln in der Repräsentation von Göttern oder Ahnen: Objekte konnten eine Stellvertreterrolle erfüllen, indem sie durch bestimmte Rituale mit kultischer Bedeutung aufgeladen wurden. Aus westlicher Sicht wurden diese Repräsentationsformen ursprünglich nur südlich der Sahara angesiedelten Gesellschaften und Religionen zugeschrieben. Inzwischen ist hingegen anerkannt, dass in allen Religionen, beispielsweise auch im Katholizismus, Vergleichbares existiert.
Der erotische oder sexuelle Fetisch bezeichnet in der Psychologie eine lustvoll aufgeladene Neigung zu einzelnen Körperteilen, Utensilien oder Materialien. Zur Stimulierung der sexuellen Erregung und Befriedigung dient das Fetischobjekt, das eine Art Stellvertreterrolle der Sexualpartner*innen einnimmt.

In Ramas Werken werden alltägliche Gebrauchsgegenstände vielfach zu künstlerischen Komplizen, um ganz und gar aus dem Alltag auszubrechen.

Insbesondere durch die Verweise auf geheime Begierden bewegt sich Rama im konservativ-katholisch geprägten gutbürgerlichen Turin schnell am Rande des Skandals. Dem Reiz der Grenzüberschreitung und all jenen Aspekten des menschlichen Daseins, welchen gängige gesellschaftliche Konventionen wenig Raum zuerkennen, öffnet sich Ramas Kunst – ein selbstbewusstes Statement einer überzeugten Nonkonformistin.

“Diejenigen, die in einer inneren Freiheit leben, sind frei.

Sie sind außerhalb der Ikonografie, außerhalb der Konventionen.”

Carol Rama

Mit über 100 Werken aus allen Schaffensphasen präsentiert die Schirn eine erste umfassende Überblicksausstellung von Carol Rama in Deutschland. Das Œuvre der Künstlerin hinterlässt unvergessliche Eindrücke. Lebensbejahend, lustvoll, grenzüberschreitend, abgründig – ihre Arbeiten spiegeln die gesamte Bandbreite des menschlichen Daseins wider. Carol Rama scheint sich jeder einfachen Kategorisierung zu entziehen, aber eines ist klar: Ihre kraftvolle Botschaft war noch nie so aktuell wie heute, und ihr Werk und ihre kompromisslose Direktheit werden zeitlos bleiben.

Geheim-

Tipp

Die drei Karten in „I tarocchi“ (1948, dt. Die Tarotkarten) entstammen dem 1910 erschienenen „Rider Waite Smith Tarot“.

Von links nach rechts liegen folgende Karten aus: „Die Welt“, sie repräsentiert Selbsterkenntnis, Harmonie und den glücklichen Abschluss. Das „Rad des Schicksals“ steht für den ständigen Fluss des Universums sowie das Auf und Ab des Lebens. Diese Karte kündigt Glück und Erfolg an, verweist aber auch auf dessen Vergänglichkeit. Das „Ass der Stäbe“ repräsentiert Neubeginn oder Wachstum und lädt ein, selbst die Initiative zu ergreifen, doch kann sie auch eine Warnung sein.

I tarocchi, 1948

Pamela Colman Smith, Die Welt, Rad des Schicksals, Ass der Stäbe, 1910

Die Karten haben feste Bedeutungen, doch Ramas Botschaft bleibt offen. Wie könnte man die Legung interpretieren?

Tauchen Sie ab 11. Oktober 2024 in der SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT in die rebellische Welt Carol Ramas ein – in der ersten Überblicksausstellung dieser einzigartigen Künstlerin in Deutschland.